OVERVIEW
Metaphern des Raumes
Im Ausstellungsprojekt OVERVIEW richtet Bettina Schünemann den Blick durch das Weltall auf Himmelskörper, Planeten und Monde. Indem Sie diesen Blick zum Ausgangspunkt des Arbeitsfeldes macht, entscheidet sie sich für den ganz großen Panoramablick, für die konsequentesten aller Totalen, die keine Details und Einzelheiten mehr zeigt. Das Zurücktreten, das Gewinnen von Abstand zum Zweck eines besseren Überblicks macht sie zum künstlerischen Prinzip.
Der englische Begriff OVERVIEW ist ebenso vielschichtig wie seine deutsche Entsprechung ÜBERBLICK. Er umfasst sehr viel mehr als nur die breitflächige Ansicht von einer entfernten Position aus: Ein solcher Gesamtüberblick kann auch kognitive Qualitäten entwickeln: Wenn es gelingt, ein bestimmtes Gebiet oder größere Zusammenhänge zu übersehen, dann erweitert sich dieser Überblick zum aktiv untersuchenden und schließlich zum begreifend-erkennenden Blick. Auch für Prozesse des Überprüfens und der Revision sind Überblick und Übersicht unentbehrliche Vorbedingungen. Und als Mitteilung über das Wahrgenommene gibt die Übersicht schließlich eine zusammenfassende und die Zusammenhänge aufzeigende Darstellung.
Und nicht zuletzt spielt OVERVIEW auf den sogenannten Overview-Effekt an, der die Erfahrungen von Astronauten beschreibt, die zum ersten Mal die Erde aus dem Weltraum sehen. Zum Overview-Effekt gehören ein tiefgreifender Perspektivwechsel und das Gefühl von Ehrfurcht und Verantwortung für das Leben auf der Erde und die Umwelt in ihrer Gesamtheit. Seit dem Raumflug Apollo 8 im Jahr 1968 und den ikonischen Fotografien, die dieser und die folgenden Mond-Missionen der Menschheit vermachten, ist das kollektive Bildgedächtnis um eine Sicht auf die Welt reicher, die bis dahin nur erdacht, nie aber erlebt werden konnte.
Der Vielzahl dieser Sinngehalte entspricht Bettina Schünemanns künstlerische Strategie. Sie blickt auf Räume, die in ihrer unendlichen Tiefe nicht begriffen werden können und bereitet sie im Prozess des bildnerischen Gestaltens auf, um sie erfassbar und wahrnehmbar zu machen. Sie arrangiert und stellt Relationen her. Der Begriff der Weltsicht, mit dem jegliche Kunst sich letztlich auseinandersetzt, liegt hier eng zusammen mit der visuellen Erfahrung des Weltraums, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Erlebensräume der Menschheit erweitert hat.
Insofern ist OVERVIEW eine konsequente Weiterführung von Bettina Schünemanns künstlerischem Interesse für Raum, Fläche und immer wieder auch die Oberfläche der Erde, die zur bildnerischen Auseinandersetzung mit Topografie und geografischen Strukturen geführt hat. Deren Projektion in die Fläche, vor allem in den Methoden der Kartographie beschäftigt sie auch in anderen Werkgruppen immer wieder. Niemals jedoch geht es dabei um die bloße Abbildung, um die Repräsentation von Gesehenem. Bettina Schünemann entwickelt solche Arbeitsbereiche sehr stark vom Konzept her. Die Auseinandersetzung mit Themen und Begriffen sowie den daran sich anknüpfenden Fragestellungen münden in das gestalterische Entwickeln einer dazu passenden visuellen Sprache.
Bereits bei ihrer Beschäftigung mit Kartografie spricht sie auch die vermeintliche Sicherheit der Orientierung in einer Epoche an, in der nicht nur jederzeit und überall die Koordinaten fast jeder Straßenecke, sondern auch ihre genaue Beschreibung dieser Orte abgefragt werden können. Immer klingt dabei als Subtext der Zweifel mit, ob und wie sich die ständige Bestimmbarkeit des Ortes auf unser aller Positionierung in unserem näheren, weiter und schließlich auch ganz weit gefassten Lebensraum auswirkt; ob unsere individuelle Vorstellung davon, wo und wie wir uns in diesem globalen Umraum selbst sehen, tatsächlich durch die immer verfügbaren Karten und Ortungen unterstützt wird. Oder erzeugt das Gefühl der Orientierung nur eine vermeintliche Sicherheit?
Wenn solche Fragen mitschwingen, wird der Begriff der Übersicht problematisiert und die metaphorische Dimension des Konzept OVERVIEW tritt zutage. Um das Ineinandergreifen von dargestelltem Raum und symbolischen Raum kreist ja eigentlich Bettina Schünemanns künstlerische Arbeit.
Der Blick auf Himmelskörper, Planeten und Monde führt sie, beinahe zwangsläufig, auch wieder zur Form des Kreises, die sie schon seit langem begleitet. Kreisformen und Tondo-Formate bilden in Bettina Schünemanns Œuvre eine charakteristische und besonders umfangreiche Werkgruppe.
Seit jeher arbeitet die Kunst mit dem Motiv des Kreises und bedient sich seiner als Kompositionselement und als inhaltlicher Bedeutungsträger. Formal hat er alle Züge einer idealen, weil in sich geschlossenen Form. Der Kreis ist punktsymmetrisch zu seinem Mittelpunkt, das bedeutet, dass alle Punkte der Kreislinie gleich weit vom Zentrum des Kreises entfernt sind. Wegen der Gleichwertigkeit all seiner Komponenten galt er seit jeher als vollkommene geometrische Figur, und in den frühen ägyptischen und babylonischen Hochkulturen und vor allem in der griechischen Antike beschäftigte man sich bereits intensiv mit seiner Berechnung. Die Vorstellung vom Kreis als Idealform verschmolz immer schon mit seiner Abbildhaftigkeit: Der Kreis stand auch für die Sonne und den Mond, er versinnbildlichte den ganzen Weltkreis, also die Vorstellung von Erde und Kosmos, und schließlich begegnet er uns in der Form des Nimbus, der bei Heiligendarstellungen den Kopf als Sitz des Geistes mit einem Heiligenschein umgibt. Äußerste Eigengesetzlichkeit entwickelte die Kreisform seit der Renaissance. Hier wurde sie auf den Umriss von nun kreisrunden Tafelbildern selbst übertragen und in der Form des Tondo kultiviert. Als idealer Form wurden auf die Kreisform die Funktionen einer „Pathosformel“, also eines Wirkung und Bedeutung steigernden Bildelements von universaler Gültigkeit übertragen.
Obwohl eigentlich eine ebene geometrische Figur, ist der Kreis in der bildenden Kunst immer auch im Sinne einer symbolischen Form zur Raumkonstruktion herangezogen worden, zum Beispiel von den Konstruktivisten, wenn Kompositionen auf der Grundlage von Kreisformen mit Vorstellungen von idealer Harmonie verknüpft wurden.
In diese Tradition stellt sich auch Bettina Schünemann, wenn sie die Kreisform immer wieder neu bearbeitet, sei es als autonome Form oder als Repräsentationen von Himmelskörpern, wie in einigen Beispielen des OVERVIEW-Konzepts. Teil davon sind auch die Tondo-Formate. Wir begegnen ihnen stratigrafisch in Schichten gefüllt oder als konsequent punktsymmetrischen Rotationsformen. Wenn eine Kreisform aus der Rotation entsteht, gibt sie Energie in den umgebenen Raum ab, während gleichzeitig der Kreismittelpunkt als Zentrum der Bewegung und Kraftfeld wahrgenommen wird. Komprimierung und Verdichtung – auch das ist eine Strategie, wenn es um Überblick und Übersicht geht, wenn das Komplexe buchstäblich auf den Punkt gebracht wird. Wie in OVERVIEW findet Bettina Schünemann für das Zusammenfassen und bildliche Spiegeln der Erfahrung von Raumphänomenen immer wieder neue Formen und Bilder.
OVERVIEW
Metaphors of Space
In the exhibition project OVERVIEW, Bettina Schünemann gazes into space. As a starting point for this body of work she takes low resolution images of planets, moons and celestial bodies – absent of detail – and enlarges them in paint. Stepping back and taking the big view is a key part of her artistic process.
The English term OVERVIEW is as complex as its German equivalent ÜBERBLICK. It encompasses much more than just a broad view from a distant position: an overview can also shape understanding. If it is possible to look past specific details, then the overview expands to active investigation and ultimately to perceptual understanding. The overview is also an indispensable prerequisite for the process of review and revision. And as a report about what has been observed, the overview summarizes and shows relationships.
And last but not least, OVERVIEW alludes to the so-called overview effect, a term which was coined to describe the feeling the astronauts experienced on seeing the earth from space for the first time. The overview effect includes a profound change of perspective and the feeling of awe and responsibility for life on earth and the environment in its entirety. Since the Apollo 8 space flight in 1968 and the iconic photographs that this and subsequent lunar missions left to humanity, our collective image memory has been enriched by a view of the world that until then could only be imagined but never experienced.
Bettina Schünemann’s artistic strategy corresponds to the multitude of these meanings. She looks at spaces that cannot be understood in their infinite depth and prepares them in the process of artistic design; making them comprehensible and perceivable by arranging and establishing relationships. Here, the concept of worldview, which all art ultimately deals with, is closely linked to the visual experience of space, which expanded humanity’s scope of experience in the second half of the 20th century.
In this respect, OVERVIEW is a continuation of Bettina Schünemann’s artistic interest in space, surface, and the surface of the earth, the subject which began her artistic examination of topography and geographical structures. It is the question of the projection of topographical information onto the surface, especially in the methods of cartography, to which she returns in other bodies of her work. However, her work is never about the mere depiction, or the representation of what is seen. The artist develops subjects of interest very much in terms of concept. Discussing of topics and terms as well as the related questions lead her to the development of a suitable visual language.
In an era where the coordinates and precise description of almost every street corner on earth can be queried at any time and anywhere, she addresses our misplaced faith in GPS data in her work with cartography. Through her work she questions how the constant determinability of a place affects how we position ourselves in our closer, wider and ultimately very broad living spaces. Is our idea of where and how we see ourselves in this global environment supported by the maps and locations that are always at our fingertips? And does the feeling of orientation only create a perceived sense of security?
When such questions resonate, the artist concept of the overview is problematized and the metaphorical dimension of the concept OVERVIEW comes to light. Bettina Schünemann’s artistic work actually revolves around the intertwining of represented space and symbolic space (…)
Translation: Gordon Hatt
ORBIT
Für die Reihe ORBIT habe ich den RAUM und BEWEGUNG IM RAUM malerisch und zeichnerisch neu erkundet. Der Ansatz war experimentell und ergebnisoffen.
Während der Corona-Zeit war das Erleben von Raum von besonderer Qualität. Unser tatsächlicher Bewegungsradius war eingeschränkt. Im Wissen, dass dies auf jeden bewohnten Teil der Erde zutraf, konnten entfernte Räume nur digital aufgesucht werden. Wir machten Raumerfahrungen auf neue Art.
Analog zu den elliptischen Formen der planetaren Umlaufbahnen unseres Sonnensystems entstehen durch ZEICHENMASCHINEN auf Papier und Leinwänden graphische Formen.
Für größere Leinwände habe ich ein FARB-PENDEL, was von der Decke herabhängt, eingerichtet. Für kleinere Papier-Arbeiten habe ich einen sog. Harmonographen gebaut. Letzterer kombiniert eine frei schwingende Zeichenplatte mit einem ebenso frei schwingenden Zeichenarm und lässt teils gesteuert, teils ungesteuert Kurven/Ovale entstehen. Durch das Farb-Pendel entstehen Arbeiten mit Anklang an den Orbit eines Planeten.
Den zeichnerischen Ergebnissen beider Vorrichtungen ist inhärent, dass sie nur bedingt planbar sind.
Beide Apparate haben für mich den besonderen Reiz, dass sowohl ich als Künstlerin und Initiatorin den Prozess bestimme als auch die physikalischen Gesetze der Erdanziehung und Trägheit den Vorgang erheblich beeinflussen – und die Kombination beider Faktoren die entstandenen Arbeiten sind, die den offenen Prozess sichtbar machen und gleichzeitig auch auf die sie bedingenden Raum-Voraussetzungen verweisen.
Ein Teil der neueren Arbeiten sind im Rahmen des Stipendiums NEUSTART KULTUR entstanden. Dafür habe ich ein Farbpendel eingesetzt.
https://youtube.com/shorts/MHE7NIBNy4M
ORBIT
For the ORBIT series, I re-explored SPACE and MOVEMENT IN SPACE through painting and drawing. The approach was experimental and open-ended.
During the Corona period, the experience of space was of a special quality. Our range of motion was limited. Knowing that this applied to every inhabited part of the earth, distant spaces could only be visited digitally. We experienced space in a new way.
Analogous to the elliptical shapes of the planetary orbits of our solar system, I create graphic shapes on paper and canvas using DRAWING MACHINES.
For larger canvases, I set up a COLOUR PENDULUM that hangs from the ceiling. For smaller paper works I built a HARMONOGRAPH. The latter combines a freely swinging drawing plate with an equally freely swinging drawing arm to create curves and ovals, that are partly controlled and partly uncontrolled. The colour pendulum creates works that resonate with the orbit of a planet.
It is inherent in the drawing results of both devices that they can only be planned to a limited extent.
Both devices appeal to me in that both I as an artist and initiator can determine the process, yet the physical laws of gravity and inertia significantly influence it as well. The resulting work is a combination of both factors that makes the open process visible at the same time as referring to the spatial conditions that condition them.
Translation: Gordon Hatt
MAPS
https://neu.bettina-schuenemann.de/dr-birgit-moeckel-ueber-map-key/